Veröffentlicht am 24. Juni 2022 von RKP

„Die Pflege ist eine Leerstelle im Koalitionsvertrag“

Arbeitgeber aus der Pflege vermissen Mut zur Innovation und Bereitschaft zu mehr Investitionen

Gelsenkirchen, 24.06.2022: Der Koalitionsvertrag der neuen NRW-Landesregierung ist da und die Arbeitgeber aus der Pflege haben offensichtlich vergeblich auf den großen Wurf gewartet. „Unsere Befürchtungen haben sich erfüllt. Die Pflege ist eine Leerstelle im Koalitionsvertrag. In den Spitzen der Corona-Pandemie galten wir als systemrelevant, davon finden wir im Programm der Landesregierung nichts mehr wieder“, fasst Ulrich Christofczik als Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege die Einschätzung der Arbeitgeberinitiative zusammen. Dabei will er die positiven Ansätze nicht außer Acht lassen: „Es freut uns natürlich sehr, dass die neue Landesregierung unsere Idee von der Internationalen Pflegebauausstellung aufgreifen will, um damit den Beitrag der Langzeitpflege am Strukturwandel und der Verbesserung der Lebensqualität, nicht nur im Revier, zu stärken.“

Wo bleibt der Ausbau der Pflege-Wohngemeinschaften?
Es fehlt aus Sicht der Pflegearbeitgeber der Mut zur Innovation und die Bereitschaft zu mehr Investition in die Zukunft. So wäre dringend eine Initiative zur Wiederbelebung der ambulant betreuten Wohngemeinschaften angezeigt. Hier herrscht im Land Stillstand wegen unklarer Rahmenbedingungen und fehlender Einheitlichkeit bei der Finanzierung. „Der Flickenteppich im Umgang mit alternativen Wohn- und Versorgungsformen bremst den dringend notwendigen Ausbau von ambulanten Gemeinschaftsangeboten. Bei uns in Essen hat man das erkannt und will diese Lücke unbedingt schließen, während in anderen Kommunen der Bedarf schlichtweg ignoriert wird“, beschreibt Silke Gerling vom Diakoniewerk Essen und ebenfalls Sprecherin der Ruhrgebietskonferenz-Pflege die Situation.

Wo bleibt die Strategie zur Digitalisierung in der Pflege?
Ein weiteres Versäumnis machen die Arbeitgeber aus der Pflege an der fehlenden Strategie zur systematischen Digitalisierung in der Langzeitpflege fest. „Im Koalitionsvertrag wird ausführlich die Digitalisierung in den Krankenhäusern und der Akutversorgung thematisiert. Wir brauchen aber nicht nur Digitalität in den Kliniken, sondern in allen Bereichen. Nachsorge, Rehabilitation und auch die Versorgung zu Hause braucht mehr technische Unterstützung“, kritisiert Thomas Eisenreich vom Betreuungsdienstleister Home-Instead die „digitale Leerstelle“ im Koalitionsvertrag. Auch bei der Digitalisierung der stationären Pflege vermisst die Ruhrgebietskonferenz-Pflege Nachhaltigkeit. „Wir brauchen eine einheitliche und auskömmliche Infrastrukturförderung sowie die Anerkennung der kontinuierlich steigenden Unterhaltskosten für digitale Anwendungen“, beschreibt Ulrich Christofczik seine Sicht als Betreiber stationärer Einrichtungen. Und weiter: „Wir fordern, dass endlich Schluss ist mit den Modellprogrammen und wissenschaftlichen Studien. Wir haben kein Erkenntnis- sondern ein Umsetzungsproblem.“

Wo bleibt die Unterstützung bei der Personalgewinnung?
Weitere Leerstellen im Koalitionsvertrag sind die Ausbildung und die Gewinnung von neuen Arbeitskräften. „Wir brauchen dringend eine zeitliche Ausweitung der Pflegefachassistenzausbildung, damit ein Aufenthaltstitel für ausländische Arbeitskräfte ohne Winkelzüge möglich wird. Es fehlt an „Integrationszentren“, um ausländischen Arbeitskräften, Quereinsteiger*innen und Menschen mit Unterstützungsbedarf den Einstieg in den Pflegeberuf zu ermöglichen“, fasst Roland Weigel, Koordinator der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, die Forderungen zusammen, die von den Arbeitgebern im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen bereits an die neue Landesregierung übermittelt worden sind. Roland Weigel weiter: „Bei allem Respekt für die Ausweitung der akademischen Ausbildung in der Pflege, geht es in den kommenden Jahren um die Gewinnung von Menschen für die Arbeit „Vor Ort“ am Bett. Wenn die Empfehlungen des Rothgang-Gutachtens umgesetzt werden sollen, brauchen wir mehr Intensität und Kreativität bei der Gewinnung von Arbeitskräften. Da hätten wir uns die die Unterstützung von regionalen Netzwerken zur Gewinnung von Arbeitskräften und zur Bildung von Allianzen gewünscht, um das Image der Pflege und die Einflussnahme durch Unternehmen aus der Pflege zu verbessern.“

Wo bleibt die Strategie zu Behebung des ambulanten Versorgungsnotstandes?
Eine große Leerstelle im Koalitionsvertrag betrifft die ambulante Pflege in NRW. „Es ist unverständlich, dass die aktuell dramatische Versorgungslage in der häuslichen Pflege nicht im Programm der Landesregierung vorkommt“, spitzt Thomas Eisenreich als Sprecher der ambulanten Arbeitgeber in der Ruhrgebietskonferenz-Pflege zu. In vielen Kommunen ist die Aufnahme der Versorgung, zum Beispiel nach einem Krankenhausaufenthalt durch einen ambulanten Pflege- oder Betreuungsdienst nicht mehr möglich. Hier braucht es neue Formen der Zusammenarbeit und flexible Versorgungsangebote. Auch technische Lösungen könnten bei der Linderung der Problematik helfen „In Münster wird gerade eine Matchingplattform für die Vermittlung von ambulanten und teilstationären Angeboten entwickelt. Das löst zwar das Problem der fehlenden Fachkräfte nicht, aber es hilft den Patienten bei der Suche nach einem geeigneten Angebot“, weist Roland Weigel auf technische Lösungsmöglichkeiten hin.

Wo bleibt die Harmonisierung des Prüf- und Kontrollgeschehens?
Die neue Landesregierung scheint auch den Kampf gegen die fortschreitende Bürokratisierung in der Pflege aufgegeben zu haben. „Wir vermissen eine Initiative zur Harmonisierung des Prüf- und Kontrollgeschehens in unseren Einrichtungen und Diensten. Es werden täglich dringend erforderliche Ressourcen durch unabgestimmte Prüfungen und den Umgang mit teils widersprüchlichen Qualitätsanforderungen gebunden“, beschreibt Ulrich Christofczik diese „Leerstelle“.

Gute Impulse und Ideen
Es gibt durchaus auch positive Aspekte im Zukunftspapier der neuen Landesregierung. Das betrifft vor allem die „Wiederbelebung“ des Quartiers und der damit verbundenen wohnortnahen Versorgung. Silke Gerling: „Wir sind sehr auf die Umsetzung der Einführung von „Community-Health-Nurses“ gespannt und freuen uns darüber, dass sich die neue Landesregierung vornimmt, dass Quartier, Mobilität, Kommunikation und Digitalität barrierefrei und für alle zugänglich und nachhaltig ausgerichtet werden sollen.“ Auch die Unterstützung der Unternehmen bei der Umsetzung des so genannten Personalbemessungsverfahrens wird positiv gesehen.

Kein „Weiter so“!
Zum Schluss bleibt aber dennoch der Eindruck bestehen, dass mit diesem Koalitionsvertrag eine Chance zur rechtzeitigen Gestaltung des demografischen Wandels verpasst worden ist. „Dieses Regierungsprogramm bleibt an zentralen Stellen unkonkret und hat in der Pflege zu viele Leerstellen. Ein Einfaches „Weiter so“ schiebt dringend erforderliche Veränderungen vor sich her. Das darf nicht passieren“, resümiert Ulrich Christofczik die Bewertung durch die Ruhrgebietskonferenz-Pflege.

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