Veröffentlicht am 18. April 2024 von RKP

„Stationärambulante Nebelkerze“

Notwendiger Systemwechsel wird hinausgezögert

Gelsenkirchen, 18. April 2024: Seit Wochen hält der Vorstoß aus dem Bundesministerium für Gesundheit zur so genannten „Stambulanz“ die Pflegebranche in Atem. Für die Ruhrgebietskonferenz-Pflege stellt sich aber die Frage nach dem Nutzen und dem Mehrwert dieser Debatte. Ulrich Christofczik, Sprecher der Arbeitgeberinitiative aus dem Revier und Vorstand der evangelischen Dienste Duisburg, formuliert seine Gedanken zur laufenden Auseinandersetzung so: „Wir diskutieren doch schon seit Jahren über sektorenübergreifende Versorgungskonzepte, die Aufhebung der Versäulung der Leistungsbereiche und nicht zuletzt über das Recht auf Selbstbestimmung auch für Pflegebedürftige. Jetzt tun wir so, als ob sich die Pflegewelt mit stambulanten Angeboten und einem Kompetenzerweiterungsgesetz ab morgen grundsätzlich verändern würde. Für uns sind das Nebelkerzen aus der Politik, die den längst notwendigen Systemwechsel in der Pflege nur hinauszögern. Hier wird auf Zeit gespielt, in dem hochkomplexe Verschlimmbesserungs-vorschläge in die öffentliche Debatte geworfen werden.“

Dabei geht es den Arbeitgebern aus der Pflege nicht ums Verhindern. „Grundsätzlich ist nach unserer Auffassung jedwede Form einer Innovation, die zu einer Verbesserung des Systems führen kann, zu begrüßen. Inwieweit dies im Falle einer stambulanten Versorgung eintreten würde, lässt sich aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht erkennen, zu abstrakt sind hierzu die vorliegenden Formulierungen“, umschreibt Frank Pfeffer von der Martinus Trägergesellschaft für soziale Dienste und Mitglied der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, seine Bedenken.

Was ist „Stambulanz?
Der BMG-Vorschlag verweist explizit auf Erfahrungen und Erkenntnisse aus einem Modellvorhaben in Baden-Württemberg. Dort wurde im Modellprojekt Haus Rheinaue der BeneVit Holding in Wyhl, eine sogenannte „Stambulante Versorgung“ entwickelt und erprobt, bei der ambulante und stationäre Leistungsanteile kombiniert werden. Wohnraum wird vermietet und pflegerische Leistungen („Grundleistung“) werden vom „Vermieter“ zur Verfügung gestellt. Weitergehende Leistungen werden bei ambulanten Pflegediensten hinzugebucht oder können alternativ von Angehörigen übernommen werden. Die Bewohner*innen des Haus Rheinaue leben in Wohngruppen von bis zu 15 Personen zusammen.

Parallelen zu WG-Konzepten
Silke Gerling, Geschäftsbereichsleiterin beim Diakoniewerk Essen und ebenfalls Sprecherin der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, sieht Parallelen des Modellprojektes zu den ambulant betreuten Wohngemeinschaften in NRW und hat daher jede Menge Fragen: „Unklar ist mir, was die Grundleistungen beinhaltet. Ist das jetzt Präsenz, Betreuung oder Grundpflege? Wenn das so ist, entspricht das aus meiner Sicht dem Wohngemeinschaftskonzept, die es wohl in Baden-Württemberg nicht gibt, aber in NRW schon seit über einem Jahrzehnt und um dessen auskömmlicher Finanzierung seit Jahren vergeblich gerungen wird. Wenn über die Diskussion der „Stambulanz“ die Finanzierung der Wohngemeinschaft neu geregelt werden kann, dann sollten wir das begrüßen.“ Einen grundlegenden Lösungsansatz vermisst auch sie: „Aus meiner Sicht lassen sich die künftigen Probleme der steigenden Nachfrage und zugleich sinkende Anzahl der Mitarbeitenden damit nicht lösen.“

Bürokratische Zumutung zu erwarten
Auch für Bodo de Vries, stellvertretender Vorstand der Geschäftsführung des Ev. Johanneswerk gGmbH und Mitglied der Ruhrgebietskonferenz-pflege steckt hinter der Entwicklung eines „stambulanten Sektors“ weder ein Konzept noch eine hinreichende Antwort auf die drängenden Fragen der Altenpflege. „Wahrscheinlich wird sie eine neuerliche bürokratische Zumutung für alle Beteiligten und Akteure in diesem Setting werden.“
Hilfreich und sinnvoll sind aus seiner Sicht sicherlich einige Aspekte des BMG-Vorschlags, die durch diesen Ansatz auf innovative Wohn- und Betreuungsformen verweisen und den Bedürfnissen einer vielfältigen Lebenswirklichkeit entsprechen können. Hier sind Parallelen feststellbar, die durch Initiative Pro-Pflegereform mit dem Prinzip „Wohnen und Pflegen“ bereits dargestellt worden sind und durch Prof. Dr. Heinz Rothgang vorgelegt wurden. Das betrifft auch die Vorschläge zur Einführung eines persönlichen Budgets, die eine namhaft besetzte Arbeitsgruppe unter dem Titel „WIRKUNGS- UND PERSONENFOKUSSIERTE PFLEGE UND BETREUUNG“ im letzten Jahr vorgelegt hat und an der auch Thomas Eisenreich, Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, beteiligt gewesen ist.

Von Planungsriesen und Umsetzungszwergen
Es drängt sich der Eindruck auf, dass im Bundesministerium für Gesundheit aus den Papieren, Vorschlägen, Analysen und Abschlussberichten einiger Modellvorhaben schnell eine Reformpaket zusammengeschrieben worden ist, um in der Branche Handlungsbereitschaft zu signalisieren. „Das ist leider typisch für die Pflegepolitik der letzten Jahre. Wir sind Planungsriesen aber Umsetzungszwerge. Es ist schon lang bekannt, dass kleinräumige, durchlässige und wohnortnahe Versorgung den Bedürfnissen der Betroffenen besser entsprechen als die meisten heutigen Leistungsangebote“, fasst Roland Weigel, Koordinator der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, zusammen.

Leistungsrechtlicher Flickenteppich absehbar
Mit den aktuellen Vorschlägen aus dem BMG wird eine neue ordnungsrechtliche Debatte in Gang gesetzt, die uns über Monate oder sogar Jahre beschäftigen wird. Selbst wenn wir hier zu schnelleren Ergebnissen kämen, steht dann noch die leistungsrechtliche Umsetzung auf dem Programm. Dabei machen die föderalen Flickenteppiche bei der Umsetzung von sektorenübergreifenden Versorgungsverträgen oder ambulant betreuten Wohngemeinschaften wenig Hoffnung auf eine Leistungsverbesserung im Sinne der Betroffenen. Ein kurzer Fragenkatalog eines Pflegeunternehmens soll zeigen, wo der „Teufel im Detail“ auf die Pflegeanbieter lauert: Gibt es separate SGB-V-Leistungen? Wird Verhinderungspflege noch ergänzend gewährt? Ist das Sachleistungsbudget stationär dann komplett in ambulante Bausteine aufzuschlüsseln? Zahlen die Bewohner unabhängig vom Pflegegrad eine feste Pauschale oder wird stärker individualisiert?

Gesetzgebungsdiarrhö, die keine Probleme löst
Für die Ruhrgebietskonferenz-Pflege scheint es leider so zu sein, dass dem BMG die politische Durchsetzungskraft für eine neue Vision und Grundsatzreform fehlt und deshalb mit einem „stambulanten Sektor“ weiter am bestehenden System herumgedoktert werden soll. Das macht es weder für Kunden noch für Leistungsanbieter einfacher: Es wir neue Abgrenzungsprobleme und Zuständigkeitsdiskussionen zwischen Leistungsanbietern und Heimaufsichten geben und neue Bürokratie und Ressourcen binden, die eigentlich keiner hat. Für Ulrich Christofczik setzt sich hier ein Trend vor: „In den letzten Jahren leiden wir an einer Gesetzgebungsdiarrhö, die Ressourcen bindet, aber keine Probleme löst. Glückauf Herr Minister!“

Foto: Zachary DeBottis, www.pexels.com