Veröffentlicht am 16. Oktober 2024 von RKP
Ruhrgebietskonferenz sieht systembedingten Investitionsstau in der ambulanten Pflege in NRW
Mehrkosten werden auf Patienten abgewälzt?
Gelsenkirchen, 16. Okrober 2024: Am letzten Mittwoch haben sich auf Initiative der Ruhrgebietskonferenz-Pflege Vertreter*innen aus 25 Unternehmen getroffen, um sich über das Thema „Investitionskostenförderung“ in der ambulanten Pflege auszutauschen. Der Tenor am Ende war einstimmig: Es besteht dringender Handlungsbedarf, wenn ein systembedingter Investitionsstau verhindert werden soll. Die Kostensteigerungen für Mieten, Fahrzeuge und nicht zuletzt die Anschaffungskosten für die allseits geforderte Digitalisierung werden von Seiten der Kostenträger nicht auskömmlich finanziert. Als Lösung scheint (fast) nur die Mehrbelastung der Patienten und damit eine Reduzierung der Leistungen in Sicht.
NRW zählt zu den wenigen Bundesländern, in denen es für ambulante Dienste eine Förderung für Investitionen in der ambulanten Pflege gibt, weshalb nicht selten in Diskussionen zum Thema zu hören ist: „Seid froh, dass es hier überhaupt etwas gibt“. Die Investitionskostenförderung ist pauschaliert und seit ihrer Einführung – Ende des letzten Jahrhunderts – auf 2,15 Euro pro Leistungsstunde festgelegt. Grundlage für die Berechnung der Investitionskostenpauschale sind die zu Lasten der gesetzlichen und privaten Pflegekassen bzw. Beihilfestellen abgerechneten Leistungen des jeweiligen Vorjahres. Diese Pauschale ist seit fast dreißig Jahren nicht angepasst worden. In der Zeit sind die Preise aber um 70 % gestiegen. Eine Förderung, die diese Preissteigerung adäquat abbilden würde, müsste demnach bei knapp 3,70 pro Leistungsstunde liegen.
Ein Beispiel aus der betrieblichen Praxis eines ambulanten Pflegedienstes macht diese „Lücke“ sehr greifbar. Anfang des Jahrhunderts hat ein Opel Corsa noch 15.000 DM gekostet. Heute schlägt die Anschaffung eines aktuellen Modells vergleichbarer Typenklasse mit mehr als 20.000 Euro zu Buche. Hinzu kommt, dass kleine Fahrzeuge kaum noch angeboten werden, was zusätzlich höhere Anschaffungskosten für so genannte Kleinwagen bedeutet.
Investitionen zählen zu den wichtigsten Aufgaben eines Unternehmens zur Herstellung von Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit. Deren Planung und die Sicherstellung ihrer Refinanzierung sind zentrale Managementaufgaben. In einem regulierten Markt wie der Pflege ist das gesetzlich reglementiert und muss mit Kostenträgern oder Leistungsempfängern ausgehandelt werden. Grundlage dafür ist der § 82 SGB XI. Darin wird geklärt, was als Investition zu verstehen ist. Für die ambulante Pflege sind darunter in erster Linie Mieten, Fuhrpark und nicht zuletzt so genannte „sonstige Anlagegüter“ zu verstehen. Unter die sonstigen „Anlagegüter“ fallen heute unter anderem die dringend notwendigen digitalen Anwendungen zur Unterstützung der Pflegearbeit.
Das Beispiel einer teilnehmenden Diakonie zeigt dabei, wo die Reise allein im letzten Jahr hingegangen ist: die Mieten sind um 38%, die Kosten für den Fuhrpark um 30 % und für IT-Anschaffungen um 26% gestiegen.
Die Investitionskostenförderung wird darüber hinaus nur für Leistungen der Pflegeversicherung nach §§ 36 und 37 geleistet, die von den Pflegekassen erstattet werden. Leistungen, die über den Leistungsrahmen des § 36 SGB XI von den Versicherten selbst getragen werden, Leistungen an private Selbstzahler, Leistungen, die vom Sozialamt finanziert werden, Leistungen, die privat aus Pflegegeld finanziert wurden, Leistungen an Nicht-Pflegeversicherte und Leistungen auf Grundlage freiwilliger Zusatzversicherungen fließen nicht in die Berechnungsgrundlage der Investitionskostenförderung ein.
Die ganze Dimension der gerade beschriebenen Lücke bei der Refinanzierung der investiven Kosten wird an Zahlen der Diakoniestationen Essen deutlich. Im Jahr 2004 hat das Unternehmen rund 300.000 Euro Investkosten erstattet bekommen. Im Jahr 2024 ist dieser Betrag auf rund 170.000 Euro geschrumpft. Wenn man die Inflation mit in diese Betrachtung einbezieht, hat sich die Investitionskostenförderung seit Anfang des Jahrhunderts mehr als halbiert.
Diese Entwicklung wird vor dem Hintergrund des aktuellen Innovations- und Investitionsdrucks auf die Pflege noch einmal besonders dramatisch. Wo sollen denn die Mittel für die ständig geforderte Digitalisierung oder die Umstellung der Fuhrparks auf E-Autos herkommen? Die dazu aufgelegten Förderungen sind entweder nicht auskömmlich oder werden sogar kurzfristig ganz gestrichen.
Welche Lösungen sind in Sicht?
Der Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass es durchaus Lösungen gibt. Allerdings gehen diese überwiegend zu Lasten der Betroffenen. So können in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Unternehmen den Betroffenen die Investitionskosten gesondert in Rechnung stellen. Dabei fallen dann z. B. zwischen 1,50 und 1,90 Euro zusätzlichen Kosten pro Einsatz an. Das summiert sich schnell auf knapp 100 Euro pro Monat, die von den Betroffenen als Eigenanteil zu leisten sind. In NRW schien diese Lösung durch die Landesförderung ausgeschlossen zu sein. Ein Pflegedienst will das jetzt prüfen lassen. Schließlich steht im § 82 (3) SGB XI: Soweit betriebsnotwendige Investitionsaufwendungen nach Absatz 2 Nr. 1 oder Aufwendungen für Miete, Pacht, Erbbauzins, Nutzung oder Mitbenutzung von Gebäuden oder sonstige abschreibungsfähige Anlagegüter nach Absatz 2 Nr. 3 durch öffentliche Förderung gemäß § 9 nicht vollständig gedeckt sind, kann die Pflegeeinrichtung diesen Teil der Aufwendungen den Pflegebedürftigen gesondert berechnen.
Neben der Erhöhung der Pauschale auf inflationsbereinigte 3,70 Euro wurde der Vorschlag geäußert, die Investitionskostenpauschale auf die gesamt Bilanzsumme aller SGB XI-Leistungen (auch §45b) aufzuschlagen. Damit würde das kostspielige Testat durch einen Wirtschaftsprüfer und jede Menge Antragsbürokratie wegfallen.
Kurzfristig müsste mindestens eine Dynamisierung der Förderung in Höhe der Inflationsrate vereinbart werden. Wobei dann das Basisjahr mit echten Investitionskostenhöhen zu benennen wäre.
Ernüchterndes Fazit
Die oben beschriebene Problematik ist mal wieder ein Beleg dafür, dass eine grundlegende Neuaufstellung der Finanzierung von Pflegeleistungen längst überfällig ist. Die Liste der politischen Versäumnisse in der Pflege wird immer länger. Wie in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft droht in der ambulanten Pflege ein Investitions- und damit Innovationsstau. Die Lösungsmöglichkeiten in Zeiten knapper öffentlichen Kassen sind scheinbar begrenzt. Am Ende werden wohl – wie aktuell in vielen Bereichen der Pflege – die Betroffenen die Zeche zahlen. Entweder durch höhere Eigenanteile oder durch Kürzungen bei der Inanspruchnahme von Pflegediensten. Das wird wiederum zu Mehrbelastungen der Angehörigen und ihrer Familien führen.