Veröffentlicht am 16. Januar 2023 von RKP

Pflegen und Wohnen ohne Sektorengrenzen

Plädoyer für einen radikalen Systemwechsel in der Langzeitpflege

Gelsenkirchen, 16.01.2023: In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen führen wir in Deutschland aktuell grundlegende Debatten über die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Über die Zukunft der Versorgung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen wird dabei immer nur dann diskutiert, wenn es mal wieder um die Deckung von Finanzierungslücken und die „Zumutbarkeit“ von Beitragserhöhungen für die Kranken- und Pflegeversicherung geht. Das muss endlich aufhören. Geld für Pflege ist kein Almosen. Wir müssen uns ehrlich machen und den Bürgerinnen und Bürgern offen sagen, dass uns die Pflege und Betreuung in Zukunft mehr Geld kosten wird, es aber mit planlosem Aktionismus nicht sinnlos verschleudert werden darf. Allein die zahlenmäßige Zunahme von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen durch die demografische Entwicklung in unserem Lande macht die Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln in Zukunft notwendig.

Wollen wir ernsthaft die Pflege und Betreuung zukunftsfähig machen, muss Schluss sein mit den kurzfristigen Reaktionen auf die immer wiederkehrenden Krisen im Gesundheits- und Pflegesystem. Die Bekämpfung dieser Krisen folgt immer dem gleichen Muster. Auf neue Symptome reagiert Politik mit neuen Vorgaben und Regelungen. Das löst langfristig keine Probleme. Stattdessen sorgt diese Strategie für einen fortlaufenden Ausbau von Bürokratie. Schließlich muss die Einhaltung der Vorgaben ja überprüft werden.

Weniger Bürokratie und mehr Flexibilität
Politik versucht ständig mit neuen Vorgaben Strukturen zur Problembekämpfung in die Unternehmen zu bringen. Das verhindert individuelle Lösungen und hemmt unternehmerisches Handeln. Für die Suche nach Lösungen zur Behebung des Fachkräftemangels brauchen wir aber mehr unternehmerische Kreativität und Flexibilität. Politik muss dafür sorgen, dass Hürden und Hemmnisse beseitigt und die Rahmenbedingungen für mehr Kreativität und Flexibilität geschaffen werden. Die Integration von ausländischen Arbeitskräften, der Ausbau von Wohngemeinschaften für Menschen mit Betreuungsbedarf, virtuelle Gruppenangebote oder die Etablierung von niedrigschwelligen Betreuungsgruppen sind nur vier von vielen Handlungsfeldern, wo Bürokratieabbau und Flexibilität dringend geboten wären. Auch die Anforderungen an die Mindestausstattung mit examinierten Fach- und Führungskräften in ambulanten Diensten und Tagespflegen müssen dringend überdacht werden.

Politische Forderungen mit Geld hinterlegen
Wenn der Vorrang von ambulanter Pflege und Betreuung vor stationärer Versorgung gewährleistet werden soll, muss dieser Bereich auch endlich finanziell und strukturell gestärkt werden. Es reicht nicht, dass Politik das ständig postuliert und letztendlich aber nicht für eine ausreichende Finanzierung sorgt. Das betrifft auch die gerade umgesetzten Lohnsteigerungen in der Pflege. Politische Forderungen müssen von Politik auch mit Geld hinterlegt werden, sonst kann sich Pflege in Zukunft nur noch ein kleiner Teil der Betroffenen leisten ohne in den Sozialhilfebezug zu fallen.

Diese Entwicklung ist in der stationären Versorgung bereits zu erkennen. Deshalb muss ganz oben auf der politischen Agenda eine radikale Reform der Finanzierung der stationären Pflege stehen. Seit Jahren liegt das Konzept des so genannten „Sockel-Spitzen-Austauschs“ bereits vor. Das würde die konsequente Eindämmung des Eigenanteils zur Folge haben. Professor Rothgang hat schon vor längerer Zeit in einem Gutachten einen Sockelbetrag von 470 Euro pro Monat und Bewohner ins Spiel gebracht. Die darüberhinausgehenden Kosten für Pflegeleistungen würden dann von der Pflegeversicherung getragen. Das würde die Umsetzung des Teilkaskogedankens in der Pflege bedeuten.

Für den ambulanten Bereich muss eine analoge Regelung noch entwickelt werden, die ebenfalls eine Beschränkung des Eigenanteils ermöglicht.
In der stationären Pflege muss in Zukunft auch die Erbringung von Behandlungspflegen finanziell vergütet werden. Heute werden diese Leistungen in den Pflegesatz eingepreist und damit letztendlich auch von den Bewohner*innen finanziert. Das ist eine Ungerechtigkeit gegenüber den Bewohner*innen, die ja auch einen Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung haben, für die sie ein Arbeitsleben lang bezahlt haben.

Foto von Mary Taylor / pexels.com

Pflege und Wohnen ohne Sektorengrenzen
Um die Schieflagen und Ungerechtigkeiten aus dem System zu eliminieren müssen wir aber noch viel größer denken und für eine Auflösung der Sektoren eintreten. Wir brauchen einen grundlegenden Systemwechsel, der den Unternehmen und den Betroffenen mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Wir treten daher für „Pflegen und Wohnen ohne Sektorengrenzen“ ein. Das wird auch den Betroffenen helfen, die sich heute ohne professionelle Hilfe im Dschungel der Pflegelandschaft nicht zurechtfinden können. Zu Ende gedacht müssen wir zu einer grundlegenden Neustrukturierung der Sozialgesetzgebung kommen. Die Sozialgesetzbücher müssen entrümpelt und neu zusammengesetzt werden. Wir brauchen weniger, um mehr leisten zu können.

Systemwechsel hin zu persönlichen Budgets
Die Eingliederungshilfe kann uns da gute Denkanstöße liefern. Die Neugestaltung des SGB IX mit dem darin enthaltenen Teilhabe- und Selbstbestimmungsgedanken könnte durchaus richtungsweisend sein. Da ist man beispielgebend von der Defizit- zur Ressourcenorientierung übergegangen. Übertragen auf die Pflege halten wir die Einführung von persönlichen Budgets zur Finanzierung und Gestaltung der individuellen Versorgung für eine gute Lösung. Dabei ist es dann letztendlich egal, wo die Versorgung stattfindet, ob ambulant, in der eigenen Häuslichkeit, in Wohngemeinschaften, in der Tagespflege bzw. der Betreuungsgruppe oder in Kurzzeit- bzw. Langzeitpflegeeinrichtungen. Im Rahmen des persönlichen Budgets könnten die Betroffenen gemeinsam mit den Leistungserbringern die bestmöglichen Settings vereinbaren. Diese „Lösung“ wird die leidige Versäulung des Versorgungssystems beseitigen. Das klingt nicht nur nach einer radikalen Reform, das wäre tatsächlich ein echter Systemwechsel, mit dem „care“ und „cure“ endlich als Einheit gesehen würden. Es wird auch dazu beitragen können, die unübersichtliche Beratungslandschaft zu vereinfachen. Wer heute in die Situation gerät, eine Pflege für sich oder seine Angehörigen zu organisieren, benötigt viel zu viel Zeit und Kraft, um eine bedarfs- und situationsgerechte Versorgung sicherzustellen. Das muss viel schneller und zielgerichteter gehen.

Digitalisierung als Teil der Regelfinanzierung
Schneller und zielgerichteter muss auch die Digitalisierung in der Pflege gehen. Eine technisch unterstützte Pflege wird es nur geben, wenn digitale Lösungen endlich zur anerkannten Grundausstattung gehören und nicht ständig über Modellvorhaben in die Unternehmen hineinprojektiert werden müssten. Investitionen in IT-Anwendungen müssen in Zukunft genauso behandelt werden wie Investitionen in Steine und Beton. Digitale Pflegeanwendungen für Betroffene müssen ohne zeitraubende und unübersichtliche Antragsverfahren zu bezahlbaren Preisen zugänglich gemacht werden. Um den Grundstock zu legen, braucht die ambulante und stationäre Langzeitpflege ein Investitionsprogramm wie es für Krankenhäuser und Kliniken schon längst beschlossen ist. Zudem müssen auch ergänzende digital-virtuelle Betreuungs- und Pflegeangebote in den Leistungskatalog aufgenommen werden, wenn Sie in das Versorgungssetting komplementär eingebettet werden.

Zentraler Punkt ist dabei, aus der Denke von Modellprogrammen und -projekten herauszukommen. Immer wieder die gleichen und vergleichbaren Erkenntnisse ohne Verstetigung zu finanzieren, ist eine Fehlallokation knapper Mittel. Wir brauchen endlich eine Regelfinanzierung für die Umsetzung.

Strategien für eine alternde Gesellschaft
Das derzeitige System ist zu komplex und kompliziert für einfache und unkomplizierte Lösungen. Die Komplexität haben Politik und Selbstverwaltung über Jahrzehnte mit den halbherzigen Reformen selber geschaffen, die sie nun mit den oben beschriebenen Lösungen verändern können. Ein radikaler Systemwechsel ist erforderlich, der wird aber nicht ohne die Unternehmen und deren Beschäftigte sowie den anderen handelnden Akteuren in der Pflege gehen. Deshalb brauchen wir jetzt den Startschuss für eine gemeinsame Kraftanstrengung und eine positiv zupackende Grundhaltung, um die oben beschriebenen Veränderungen zu stemmen. Wir sind davon überzeugt, dass der demografische Wandel nicht nur eine Belastung für unsere Gesellschaft darstellt. Er ist zugleich eine Chance und beinhaltet bislang ungenutzte Ressourcen. In den nächsten Jahren werden wir nämlich eine sehr große Anzahl von Menschen haben, die im Ruhestand nach neuen Herausforderungen und Anwendungsfeldern für ihre Kompetenzen suchen. Wir brauchen daher auch Strategien zur Gewinnung und Nutzung der Potenziale einer älteren Generation, die es gewohnt ist mit anzupacken.

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