
Veröffentlicht am 16. Mai 2025 von RKP
„Trust in Care!?“ – Pflege-Entbürokratisierung im Fokus
Erster digitaler Pflegegipfel bringt Fachkräfte, Betroffene und Politik zusammen
Weniger Bürokratie – mehr Vertrauen in die Pflege!
Am 9. Mai 2025 veranstalteten die Ruhrgebietskonferenz-Pflege und „wir pflegen!“ NRW den ersten digitalen Pflege-Entbürokratisierungsgipfel. Eingeladen waren Arbeitgebervertreter, pflegende Angehörige, politische Entscheidungsträger, kommunale Vertreter und Kostenträger. Ziel war es, gemeinsam konkrete Wege zu finden, wie die Pflege von bürokratischer Last befreit und gleichzeitig qualitativ hochwertig gestaltet werden kann.
Ein strukturelles Problem: Pflege erstickt an Bürokratie
Seit Jahren wird über den Abbau von Bürokratie im Gesundheitswesen diskutiert – doch nachhaltige Veränderungen sind bislang ausgeblieben. Ulrich Christofczik, Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, machte deutlich, wie lange schon Pflegeunternehmen und Fachkräfte unter einem ständig größer werdenden Wust an Vorschriften und Kontrollmechanismen leiden. Dabei gebe es seit Langem praktikable Vorschläge aus der Pflege selbst. Doch es fehle der Mut, diese umzusetzen. Für einen wirksamen Bürokratieabbau brauche es vor allem zwei Dinge: Vertrauen in die Pflege und politischen Gestaltungswillen.
Christofczik betonte, dass Kontrolle wichtig sei, um Missstände zu erkennen – aber ebenso wichtig sei es, die Pflegenden nicht durch überzogene Regelungen in ihrer Arbeit zu behindern. In Zeiten des demografischen Wandels seien Gestaltungsspielräume für eine bedarfsgerechte Versorgung dringend notwendig. -> Keynote als pdf
Vielfach überlastet – die Folgen fehlender Entlastung
Die Veranstaltung machte deutlich, wie groß die Herausforderungen für Pflegeeinrichtungen und Angehörige inzwischen sind:
- Unklare Zuständigkeiten und rechtliche Flickenteppiche: Einrichtungen müssen sich gleichzeitig mit Landesgesetzen, kommunalen Verordnungen und verschiedenen Aufsichtsbehörden auseinandersetzen. Wer z. B. im Ruhrgebiet tätig ist, hat es mit drei Regierungspräsidien, zwei Landschaftsverbänden und 15 Kommunen zu tun. Unterschiedliche Auslegungen der gleichen Gesetze führen zu Verunsicherung und Mehraufwand.
- Lange Entscheidungswege bei der Fachkräftegewinnung: Im Schnitt warten ausländische Pflegekräfte rund 500 Tage auf die Anerkennung ihrer Qualifikation. Aktuell sind rund 11.000 Personen betroffen – obwohl ihr Einsatz dringend gebraucht würde.
- Vielfältige Prüfungen lähmen den Alltag: Einrichtungen müssen mit bis zu 17 verschiedenen Kontrollen pro Jahr rechnen – durch den Medizinischen Dienst, Heimaufsicht, Brandschutz, Gesundheitsämter, Kreisapothekerinnen u. a. Das bindet Zeit und Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen. Inzwischen empfinden viele Einrichtungen die Prüfintensität als unverhältnismäßig – sie fühle sich mitunter strenger an als die Auflagen für ein Atomkraftwerk.
- Ineffiziente Pflegeverordnungen: Die Verordnung häuslicher Krankenpflege, etwa bei Wundversorgung, ist aktuell meist auf 28 Tage beschränkt. Obwohl eine fachgerechte Behandlung im Schnitt 90 Tage dauert, müssen Verordnungen regelmäßig erneuert werden – mit unnötigem bürokratischem Aufwand für Ärzte und Pflegedienste.
- Überregulierung statt Vertrauen: Trotz Fachkräftemangel werden Pflegekräfte aus dem System abgezogen – z. B. für Tätigkeiten beim Medizinischen Dienst, der mittlerweile selbst 4.400 Fachkräfte beschäftigt.
- Selbstkritik gehört dazu: Zum Bürokratieabbau gehört auch ein selbstkritischer Blick auf die Pflegeunternehmen. Die Langzeitpflege schafft es bis heute nicht, mit einer Stimme in der Öffentlichkeit aufzutreten. Es braucht mehr Geschlossenheit. Es braucht aber auch mehr Kompetenz und Mut zu unternehmerischer Verantwortung. Der Ruf nach Absicherung durch allgemeinverbindliche Regeln und Vorgaben kommt nicht selten aus den Reihen der Pflegearbeitgeber. Wer Bürokratieabbau fordert muss gleichzeitig bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Da gibt es aus Sicht der Ruhrgebietskonferenz-Pflege noch „viel Luft nach oben“.
Vorschläge aus der Praxis: Lösungen statt Klagen
Mehrere Akteure aus der Praxis brachten konkrete Reformvorschläge ein:
- Christian Westermann vom Pflegedienst „Engel vonne Ruhr“ und ebenfalls Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege plädierte dafür, dass Pflegedienste und Ärzte gemeinsam über die Dauer einer Wundversorgung entscheiden können – auf Basis medizinischer Notwendigkeit statt starrer Fristen. Auch die Digitalisierung müsse dringend vorangetrieben werden. Derzeit verursachen handschriftliche Verordnungen eine hohe Fehlerquote und unnötige Rückfragen. Eine flächendeckende digitale Lösung sei in Sicht, aber wohl erst ab 2027 verfügbar. ->Beitrag als pdf
- Bernhard Sandbothe von „Starke Pflege Münster“ sprach sich für eine klare Abgrenzung der Prüfzuständigkeiten aus. Die Behörden sollten sich stärker auf Ergebnisqualität konzentrieren, statt Prozesse doppelt zu prüfen. Regelprüfungen sollten nur noch alle drei bis vier Jahre stattfinden – Anlassprüfungen bleiben weiterhin möglich. Zudem regte er an, Meldepflichten wie jene zur Belegung freier Pflegeplätze („Heimplatzfinder“) zu streichen, wenn diese keinen praktischen Nutzen bringen.
- Claudia Ott von der Fliedner-Stiftung betonte, dass die Anerkennung und Integration ausländischer Pflegekräfte deutlich vereinfacht werden müssen. Pflegeschulen sollten eine zentrale Rolle in der Kompetenzfeststellung übernehmen. Finanzierungslasten – etwa für Sprachkurse oder zusätzliche Ausbildungsvergütung – sollten über den Landesausbildungsfonds gedeckt werden. Auch auf bürokratische Hürden wie die AZAV-Zertifizierung durch die Bundesagentur für Arbeit sollte verzichtet werden. -> Beitrag als pdf
- Notburga Ott von „wir pflegen!“ NRW sprach gemeinsam mit Edeltraud Hütte-Schmitz für die pflegenden Angehörigen. Sie kritisierten das Zuständigkeitschaos und forderten einheitliche Ansprechpartner und Budgets. Oft würden notwendige Hilfsmittel wochenlang nicht geliefert – teils wegen fehlender Anträge, teils wegen langwieriger Genehmigungsverfahren. In vielen Fällen seien Widersprüche gegen Ablehnungen erfolgreich – doch nicht jede Familie sei in der Lage, diese einzulegen. Angehörige wünschen sich mehr Eigenverantwortung und ein pauschales Budget, aus dem sie individuell passende Leistungen finanzieren können – ohne kleinteilige Genehmigungsverfahren.
Digitalisierung als Schlüssel – Bürokratieabbau als Prozess
Barbara Steffens, ehemalige NRW-Pflegeministerin und heutige Vertreterin der Techniker Krankenkasse, machte deutlich: Bürokratieabbau ist kein Schnellverfahren, sondern ein langfristiger Prozess. Digitalisierung sei ein wichtiges Instrument, um Prozesse zu vereinfachen, Fehler sichtbar zu machen und Abläufe zu harmonisieren. Nötig sei ein prüfender Blick auf jede einzelne Regelung – begleitet von einem respektvollen, konstruktiven Austausch unterschiedlicher Perspektiven.
Politik signalisiert Gesprächsbereitschaft
Mehrdad Mostofizadeh, Fraktionsgeschäftsführer der Grünen im NRW-Landtag, versicherte, dass bei der geplanten Überarbeitung des Wohn- und Teilhabegesetzes in NRW der Bürokratieabbau ein zentrales Anliegen sei. Die Kritik und Vorschläge der Betroffenen würden ernstgenommen und in die Gesetzgebung einbezogen.
Fazit und Ausblick
Am Ende des Gipfels bekräftigte Ulrich Christofczik: „Wir brauchen keine weiteren Prüfberichte, sondern konkrete Veränderungen – und wir brauchen Vertrauen.“ Die Pflegearbeitgeber und die Betroffenen erwarten von der Politik klare Schritte hin zu einem System, das bündelt, pauschaliert und automatisiert – und dabei die Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Pflegeunternehmen und Betroffenenvertretungen haben viele Ideen, wie Bürokratie sinnvoll reduziert werden kann, ohne auf Qualität und Kontrolle zu verzichten. Die Bereitschaft zur Mitarbeit ist groß – jetzt kommt es auf die politischen Rahmenbedingungen an.
Die Botschaft des Gipfels ist klar: Die Pflege ist bereit – jetzt ist die Politik am Zug.
Wir sind dran!
Zusätzliches Material: Wege aus der Komplexitätsfalle (Normenkontrollrat) als pdf