Veröffentlicht am 30. März 2023 von RKP

Zeitarbeit ist nur Symptom einer tiefgreifenden Krise in der Langzeitpflege

Leiharbeitsgipfel der Ruhrgebietskonferenz-Pflege sammelt konkrete Vorschläge zur Regulierung und Zusammenarbeit

Gelsenkirchen, 30.03.23: Über 120 Vertreter*innen aus der Langzeitpflege, den Spitzenverbänden, der Landespolitik und nicht zuletzt den Kommunen nahmen am 28.03.23 am digitalen Leiharbeitsgipfel der Ruhrgebietskonferenz-Pflege teil. Auf der Veranstaltung wurden Zahlen, Daten und Hintergründe zum Thema „Zeitarbeit in der Pflege“ zusammengetragen sowie die bereits spürbaren Folgen und die sich abzeichnenden Konsequenzen des aktuellen Leiharbeitsbooms ausgeleuchtet. Nicht zuletzt wurden konkrete Vorschläge zur Regulierung und Zusammenarbeit gesammelt. Mit Politiker*innen wurde über die dringend erforderlichen Reformen des Pflegesystems diskutiert.

In seinem Auftaktstatement betonte Ulrich Christofczik als Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, dass es bei der Veranstaltung nicht um ein Verbot oder die systematische Ausgrenzung von Leiharbeit in der Pflege gehen sollte. Während der Corona-Pandemie und auch heute noch sind Leiharbeiter*innen ein unverzichtbares Element, um die Versorgungssicherheit der Bewohner*innen zu gewährleisten. Wichtig sei aber eine Regulierung, die die ausufernden Preise eindämmt und die Abrechnung von Mehrkosten gegenüber den Kostenträgern sicherstellt. Um die Dimension der Leiharbeit zu verdeutlichen, hatte der Vorstand des Christophoruswerkes und Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Duisburg Zahlen mitgebracht. In den 17 Einrichtungen seines Unternehmens wurden in 2022 für rund eine Million Euro Leiharbeitskräfte eingesetzt. Da diese rund ein Viertel teurer sind als die Beschäftigten aus der Stammbelegschaft, sind rund 250.000 Euro Mehrkosten entstanden, auf denen das Christophoruswerk und die Evangelische Altenhilfe Duisburg jetzt sitzenbleiben. „Auch wenn Bundesminister Karl Lauterbach letzte Woche den Eindruck vermittelt hat, dass wir durch Einsatz von Zeitarbeit leichtfertig Mehrkosten erzeugen und diese der Solidargemeinschaft aufbürden, bleiben wir auf einer viertel Millionen Euro für 2022 sitzen“, fasst Ulrich Christofczik seine Zahlen zusammen und ergänzt: „Wir tun das, um die Versorgung unserer Bewohner*innen zu sichern und unsere Beschäftigten zu entlasten.“ Klar ist aber für alle Beteiligten, dass sich das ein Träger der Altenhilfe nicht lange leisten kann. Viele kleine und mittlere Unternehmen sind deshalb schon heute von Insolvenz bedroht.

Beim Einsatz von Zeitarbeit bringen wir Geld mit
Insbesondere in der ambulanten Pflege, in der viele kleine Unternehmen unterwegs sind, nimmt die aktuelle Entwicklung bedrohliche Züge an. Martina Pollert, Geschäftsführerin der Diakoniestationen Essen, macht das an der Kostenentwicklung für Zeitarbeitskräfte im Vergleich zu ihren eigenen Mitarbeitenden deutlich. In 2020 kosteten ihre eigenen Mitarbeitenden 36 Euro pro Stunde, während eine Mitarbeiterin der Zeitarbeit 49 Euro gekostet hat. In 2022 hat sich der Aufschlag fast verdoppelt. Während für Beschäftigte der Stammbelegschaft 39 Euro kalkuliert werden mussten, kostete die Zeitarbeitsmitarbeiterin schon 63 Euro. „Beim Einsatz von Zeitarbeit bringen wir Geld mit“, betont Martina Pollert. Nicht umsonst hat sie sich entschieden, seit Jahresbeginn die Zeitarbeit nur noch in extremen Notlagen einzusetzen.

Auf dem Weg in den Pflege-Blackout
Für Ulrich Christofczik zeigt sich an diesen beiden Beispielen, dass die Unternehmen in der Pflege aktuell nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben: „Entweder wir nehmen die Mehrkosten für die Leiharbeit in Kauf oder wir rationieren die Pflegeangebote. Beide Wege führen perspektivisch in einen Pflege-Blackout.“

Pflege wird schon heute rationiert
Dass es sich hier nicht um Einzelfälle handelt, belegen Zahlen einer AdHoc-Erhebung unter den Mitgliedern des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP). Die Rückmeldungen von rund 500 Trägern sind aus Sicht der DEVAP-Geschäftsführerin Anna Leonhardi ein Beleg dafür, dass bereits heute die Versorgungssicherheit in der Langzeitpflege gefährdet ist. Ambulante und stationäre Pflege werden rationiert. Hauptgrund dafür ist der akute Arbeitskräftemangel. Allein in NRW haben 81 % der Unternehmen aus personellen Gründen ihre Leistungen eingeschränkt. Gründe für Leistungseinschränkungen sind kurz- und langfristige Erkrankungen von Mitarbeitenden und die Nichtbesetzung von offenen Stellen. In der stationären Pflege konnten 49% der Träger in den letzten sechs Monaten nicht alle Betten belegen. 95 % der ambulanten Dienste mussten Neukunden ablehnen. Die Nachfrage nach Pflegeleistungen steigt, aber die Versorgung wird rationiert. Durch die Ablehnung ambulanter Versorgung entsteht ein Sog in die Pflegeheime, die aber selber gerade die Kapazitäten zurückfahren.
Für Ulrich Christofczik ist daher das Thema Leiharbeit in der Pflege lediglich ein Symptom einer tiefgreifenden Krise des Gesamtsystems Langzeitpflege. Nichtsdestotrotz braucht es aber auch hier einen Umgang und eine Perspektive.

Tarifvertrag für Leiharbeit in der Pflege
Für die Teilnehmenden des Gipfels liegt diese Perspektive aber nicht in gegenseitigen Schuldzuweisungen, Drohungen oder Verbotsforderungen, sondern in der Suche nach einer gemeinsamen Lösung. Es ist für die meisten Täger nämlich klar, dass die Leiharbeit für zahlreiche Beschäftigte durchaus positive Effekte hat und ein Verbot möglicherweise viele gänzlich aus dem Berufsfeld Pflege vertreiben würde. Sehr konkret wurde es dabei als Matthias Menne von der Firma Rehcura seine Vorstellungen und Angebote auf dem Gipfel präsentiert hat. Er hält die aktuelle Entwicklung ebenfalls für gefährlich und die aktuelle Lohn- und Preisspirale für absurd. Er plädiert für einen Tarifvertrag zur Leiharbeit in der Pflege. In einem solchen Tarifvertrag sollten Preis- und Lohnobergrenzen festgelegt, aber auch Mindestanforderungen an Qualifikationsniveaus definiert und die Beteiligung an der Ausbildung von Pflegefachkräften festgeschrieben werden. Aus dem Kreis der Teilnehmenden wurden diese Vorschläge noch ergänzt und es gab den Hinweis auf den „Musterrahmenvertrag zur Arbeitnehmerüberlassung“, den die Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) in die Debatte eingebracht hat.

Springerpools unter Zeitarbeitsbedingungen
Natürlich wurde auch darüber diskutiert, wie Unternehmen aus der Pflege die Inanspruchnahme von Leiharbeit durch eigene Konzepte vermeiden oder aber wenigstens reduzieren können. Der Begriff “Springerpool“ wurde in seinen verschiedenen Ausprägungen immer wieder in die Diskussion eingebracht. Dahinter verbirgt sich die Idee, mit eigenen Beschäftigten einen besonderen Organisationsbereich zu schaffen, in dem Mitarbeitende unter den Bedingungen einer Leiharbeitsfirma eingesetzt werden. Hierzu stellt das Bundesland Bayern inzwischen auch Mittel für die Entwicklung und Erprobung zur Verfügung. Gereon Unnebrink von der AWO Essen hat dazu eine Initiative der Pflegeunternehmen ins Spiel gebracht, an deren Ende möglicherweise ein trägerübergreifender Springerpool für das gesamte Stadtgebiet stehen könnte. Schließlich ist für die AWO in ihren Einrichtungen mit 15 % Krankenstand und einer spürbaren Abwanderung der Beschäftigten in die Leiharbeit der Handlungsdruck enorm. Hier sieht der Referatsleiter auch die Kommunen in der Verantwortung, um nach gemeinsamen Wegen für die Versorgungsicherheit zu sorgen. Deshalb hat er die Redaktion für ein gemeinsames Positionspapier übernommen und dieses in die kommunalen Gremien getragen.

Kooperation statt Konfrontation
Die Diakone Gladbeck, Bottrop Dorsten arbeitet aktuell mit einer Zeitarbeitsfirma an einer gemeinsamen Lösung. Hier stellt die Leiharbeitsfirma einen festen Springerpool, der immer die gleichen Mitarbeiterinnen in die Einrichtungen schickt. Für Kerstin Schönlau, Geschäftsbereichsleiterin der Diakonie, hat das den Vorteil, dass die Beschäftigten die Abläufe und Routinen kennen. Außerdem kann damit auch zumindest teilweise der Anspruch an einer bewohner- und patientenbezogenen Bezugspflege gewährleistet werden.

Mehr Transparenz wagen
Einen ganz anderen Weg geht Helmut Wallrafen, der als Geschäftsführer der Sozialholdung Mönchengladbach auf Kommunikation und Transparenz setzt. Er macht aktiv auf die gute Bezahlung in seinen kommunalen Pflegeheimen aufmerksam, in dem er den Stundenlohn als Werbemittel in den Vordergrund stellt. In kurzer Zeit hat er damit bereits Mitarbeiter aus Zeitarbeitsfirmen zurückgeholt.

Wo sollen denn die Menschen herkommen?
In der Abschlussrunde mit den NRW-Landtagsabgeordneten Claudia Weng (SPD) und Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) ging es dann noch einmal in die Politik. Wobei die Politiker*innen den Anwesenden wenig Hoffnung auf schnelle Lösungen machen konnten. Claudia Weng betonte die Komplexität der Probleme, die für sie aus 20 Jahren Untätigkeit der verschiedenen Bundes- und Landesregierungen entstanden ist. Mehrdad Mostofizadeh legte die Finger in die offene Wunde der Demografie. Für ihn ist die ungelöste Frage, wo denn all die Menschen herkommen sollen, die in Zukunft die Versorgung der ständig wachsenden Anzahl an pflege- und unterstützungsbedürftigen Menschen sicherstellen sollen. Er hält einen grundlegenden gesellschaftlichen Diskurs über die Zukunft der Pflege für überfällig.

Versorgungskrise nicht im öffentlichen Bewusstsein
Dem können die Arbeitgeber aus der Pflege nur zustimmen. Für Ulrich Christofczik fällt am Ende der Veranstaltung das Fazit und der Ausblick daher auch durchwachsen aus. Zunächst mal ist es gut, dass Pflege und Zeitarbeit hier eine gemeinsame Plattform gefunden und der Öffentlichkeit keinen Streit auf offener Bühne geliefert haben. Auch die Vorschläge und Ideen zur weiteren Zusammenarbeit hält er für ermutigend. Es muss aber auch festgestellt werden, dass die sich zuspitzende Versorgungskrise in der Langzeitpflege aktuell nicht in das öffentliche Bewusstsein vordringt. „Für uns ist es schon frustrierend, dass in der Politik und den Medien nur Vorschläge zur Begrenzung der finanziellen Belastungen diskutiert werden. Die Pläne der Bundesregierung zur Verbesserung der Pflege und die Idee von Minister Lauterbach zur Eindämmung der Leiharbeit lassen zudem nicht nur Zweifel am Reformwillen der Entscheider*innen sondern an deren fachlichen Kompetenz aufkommen.“ Trotzdem gilt für den Sprecher Ruhrgebietskonferenz-Pflege am Ende: „Wir bleiben dran!“

Beiträge des Gipfels (pdf):