Veröffentlicht am 21. Juni 2023 von RKP
Integration ist ein Marathonlauf
Pflege braucht dringend mehr Zuwanderung: Ruhrgebietskonferenz macht sich für ein Pflege-Integration-Center-Ruhr stark
Gelsenkirchen, 21. Juni 2023: Der demografische Wandel nimmt Fahrt auf. Die so genannten „Baby-Boomer“ gehen in Rente. Bis 2030 werden beispielweise im Evangelischen Johanneswerk fast 30 % der heutigen Belegschaft in den Ruhestand gegangen sein. Geschäftsführer Bodo de Vries lässt Zahlen sprechen. „Wir brauchen bis zum Ende des Jahrzehnts fast 1.200 neue Mitarbeiterinnen, um den Status Quo unseres Versorgungsangebots zu sichern. Ohne Zuwanderung von außen ist das nicht zu schaffen.“ Bundesweit werden in den kommenden 10 – 12 Jahren 500.000 Pflegekräfte das Rentenalter erreichen.
„Wir müssen Integrationsprofis werden“
Das evangelische Johanneswerk setzt auf Kooperation. Gemeinsam mit türkischen Partnern sollen in den kommenden vier Jahren 180 Auszubildende aus der Türkei für die Arbeit in der Langzeitpflege qualifiziert werden. Das Projekt heißt ZukuLuG und steht für das „Zukunftswerk Leben und Gesundheit“, in dem das Johanneswerk mit seinem türkischen Partner ASAVDER gezielt jungen Menschen aus der Türkei eine dauerhafte Beschäftigungsperspektive in Deutschland anbieten will. Das Projekt wird durch die EU und das NRW-Gesundheitsministerium kofinanziert und wissenschaftlich begleitet. Für Projektleiter Dr. Henning Cramer ist klar: „Wir müssen Integrationsprofis werden. Integration verstehen wird dabei als einen Prozess, der von allen Seiten Integrationsbereitschaft und -kompetenz erforderlich macht.“
„win-win für Alle“
Einen anderen Ansatz und eine andere Zielgruppe verfolgt das Projekt INAR des AWO-Bezirksverbandes Niederrhein seit 2020. Gemeinsam mit den AWO-Seniorendiensten Niederrhein und mehreren Kreisverbänden setzt das Projekt auf gegenseitige Unterstützung. Hier werden Geflüchtete, die sich eine Tätigkeit in der Pflege vorstellen können, mehrsprachig und kultursensibel beraten und begleitet. Das Projekt hat dazu Profilchecks für den Pflegebereich entwickelt, um frühzeitig abzuklären, ob eine Tätigkeit in der Pflege etwas für die Interessierten ist. Die sog. Integrationslots*innen bei der AWO unterstützen die Bewerber*innen u.a. konkret bei der Anerkennung von Abschlüssen, der Suche nach berufsbegleitenden Fachsprachkursen und stehen den Vermittelten und den Einrichtungen auch nach der Aufnahme einer Tätigkeit langfristig als Ansprechpartner*innen zur Verfügung. Darüber hinaus werden im Projekt Pflegeeinrichtungen und deren Mitarbeiter*innen auf ihre Rolle als Unterstützer bei der Integration vorbereitet. Inzwischen wurden rund 55 Beschäftigte erfolgreich vermittelt, weitere 130 befinden sich in der Vorbereitung (u.a. Sprachkurse, Anerkennungsverfahren von Abschlüssen, Praktika). Allerdings aktuell nicht viele als Pflegefachkräfte, sondern vielfach zunächst als Hilfs- und Assistenzkräfte und in Ausbildung. „Das ist aber für viele Projektteilnehmer*innen schon ein großer Erfolg. Pflege ist schließlich ein sehr vielschichtiges und anspruchsvolles Berufsfeld“, ordnet Menderes Candan, Abteilungsleiter Migration beim AWO Bezirk Niederrhein die Zwischenbilanz von INAR ein.
„Marathonlauf in kleinen Schritten“
Für Roland Weigel zeigt sich darin auch schon das grundsätzliche Problem: “Integration ist ein Marathonlauf und den gehen wir gerade mit sehr kleinen Schritten an. Die Unternehmen in der Pflege werden das ohne externe Unterstützung und Kooperationen nicht bewältigen.“ Das belegt auch der Erfahrungsbericht von Gabriela Pires-Rodrigues, die als Einrichtungsleiterin bei den Seniorendiensten der AWO-Niederrhein manchmal als Fremdenführerin durch das bergische Land fungiert und den zugwanderten Arbeitskräften bei der Wohnungssuche oder den notwendigen Behördengängen begleitend zur Seite steht.
Bearbeitungszeiten sind ein Ärgernis
Insbesondere die Behördengänge sind Zeit- und Energiefresser. Das Johanneswerk hat in NRW in vielen Kommunen Standorte, in denen ausländische Arbeitskräfte gerade Fuß fassen wollen. „In keinem Kreis oder keiner kreisfreien Stadt haben wir vergleichbare Verhältnisse. Überall treffen wir auf völlig unterschiedliche bürokratische Anforderungen“, beschreibt Bodo de Vries die Praxis. Insbesondere die Bearbeitungszeiten sind ein fortwährendes Ärgernis. Bis zu zwölf Monaten dauern mitunter Anerkennungsverfahren. In dieser Zeit können Fachkräfte – wenn überhaupt – nur als Hilfskräfte eingesetzt werden.
Abwanderung in Krankenhäuser und Kliniken
Inzwischen gibt es am „Markt“ eine Vielzahl von Vermittlungsagenturen, die Pflegeunternehmen bei der Akquise und auch Integrationsmaßnahmen vor Ort unter die Arme greifen. Natürlich gegen Bezahlung. Von den konkreten Größenordnungen hat Sarina Theyßen vom German Application Center auf dem Pflege-Integrationsgipfel berichtet. Das kleine Unternehmen aus Köln hilft beim Transfer indischer Fachkräfte und Azubis nach Deutschland. Die Vermittlung einer Fachkraft kostet rund 9000 Euro. Eine Garantie für den langfristigen Verbleib im Unternehmen gibt es natürlich nicht. Hier liegt auch ein großes Risiko für die Unternehmen der Langzeitpflege. Nicht selten nämlich wandern Fachkräfte aus dem Ausland nach erfolgreichem Transfer in die Krankenhäuser und Kliniken ab. Die Arbeit in der Akutversorgung genießt in vielen Herkunftsländern ein höheres Ansehen. Natürlich spielt auch die bessere Bezahlung eine Rolle.
„Wir brauchen ein Pflege-Integration-Center-Ruhr“
Die absehbar steigenden Pflege- und Unterstützungsbedarfe der Zukunft machen Zuwanderung zu einer Notwendigkeit. Silke Gerling vom Diakoniewerk Essen und Sprecherin der Ruhrgebietskonferenz-Pflege: „Mit den bisherigen Maßnahmen sichern wir lediglich den Status Quo. Wir wissen nicht, wer die steigende Zahl der Pflegebedürftigen in Zukunft versorgen soll. Integration ist mit großem organisatorischem und personellem Aufwand verbunden. Deshalb machen wir uns für ein Pflege-Integration-Center-Ruhr stark“. Gerade kleine und mittlere Unternehmen aus der Pflege stehen nämlich vor der Frage, woher sie das zusätzliche Personal für die Gewinnung und Begleitung der Zuwanderer nehmen sollen. Hier wären dringend Netzwerke und Kooperation angesagt. Doch auch Netzwerkarbeit braucht Fachkräfte. Ohne öffentliche Unterstützung wird das für die Unternehmen aus der Pflege nicht zu stemmen sein.