Veröffentlicht am 17. November 2025 von RKP

Noch in weiter Weg zur inklusiven Pflege

Systemwandelworkshop der Ruhrgebietskonferenz-Pflege und „ZukunftPflege NRW“ zeigt: Demografischer Wandel verschärft Herausforderungen für ältere Menschen mit Behinderung

Menschen mit Behinderung werden älter – und stoßen dabei auf ein Pflegesystem, das für ihre Bedürfnisse kaum vorbereitet ist. Der gemeinsame Systemwandelworkshop „Pflege inklusiv – Altwerden mit Behinderung“ der Ruhrgebietskonferenz-Pflege und des Netzwerks „ZukunftPflege NRW“ (12. November 2025) machte deutlich, wie dringend neue, inklusive Pflegekonzepte und gerechtere gesetzliche Rahmenbedingungen benötigt werden.

Prof. Dr. Karin Tiesmeyer und Prof. Dr. Sabine Kühnert von der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum fassten zu Beginn noch einmal die seit Jahren bekannte Studienlage zusammen. Rund ein Viertel aller Menschen ab 65 Jahren besitzt heute einen Schwerbehindertenausweis. Besonders bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung ist ein deutlicher Anstieg zu beobachten. Viele Betroffene haben mehrere chronische Erkrankungen, ein erhöhtes Risiko für Fehl- oder Nichtdiagnosen und stoßen aufgrund komplexer Lebenslagen seltener auf geeignete Gesundheitsangebote. Neben gesundheitlichen Risiken rückt auch die soziale Lage in den Blick: Ältere Menschen mit Behinderung verfügen oft nur über sehr kleine Netzwerke, sind stark von ihren Eltern abhängig und stehen nach deren Wegfall vor erheblichen Versorgungslücken. Wohnstrukturen bleiben zu wenig flexibel — viele leben in besonderen Wohnformen, während klassische Altenheime für sie selten eine passende Option darstellen. Gleichzeitig möchten die meisten im gewohnten Umfeld älter werden.

Das Fazit der Professorinnen: Der Pflegebedarf älterer Menschen mit Behinderung wird weiter steigen. Um Teilhabe und Selbstbestimmung zu sichern, brauchen Betroffene stabile Beziehungen, passende Wohnformen und ein Versorgungssystem, das auf ihre wachsende Heterogenität reagieren kann.

Mangel an Alternativen
In mehreren Praxisbeiträgen aus Einrichtungen der Altenhilfe, Eingliederungshilfe und Sozialpsychiatrie wurde sichtbar, dass immer mehr Menschen mit geistigen oder mehrfachen Behinderungen im höheren Lebensalter einen kombinierten Bedarf an Assistenz, intensiver Alltagsbegleitung und pflegerischer Versorgung haben. Ambulante Hilfen reichen häufig nicht mehr aus, Angehörige stoßen an Grenzen, und viele Betroffene verbleiben mangels Alternativen in ungeeigneten Wohnformen oder sogar in psychiatrischen Kliniken.

Leuchttürme zeigen wie es gehen kann
Gute Beispiele wie das Heinrich-Held-Haus in Essen – vorgestellt von Silke Gerling vom Diakoniewerk in Essen – oder das Haus an der Flottenstraße in Duisburg – vorgestellt von Natalie von Lackum von den Evangelischen Diensten in Duisburg – zeigen, dass inklusive Pflege funktioniert, wenn multiprofessionelle Teams, flexible Strukturen und ausreichend Personal zur Verfügung stehen. Entscheidend sind stabile Beziehungen, individuelle Lebensweltorientierung und die Verbindung von Pflege und Assistenz. Gleichzeitig verdeutlichten die Einrichtungen, dass sie unter massivem Druck stehen: Es gibt zu wenige spezialisierte Pflegeangebote, lange Wartelisten und strukturelle Lücken zwischen SGB XI (Pflege) und SGB IX (Eingliederungshilfe).

Strukturelle Benachteiligung
Besonders kritisch ist die Unterfinanzierung in besonderen Wohnformen: Verena Stachelhaus, Leiterin im Sozialpsychiatrischer Verbund „Haus an der Dorenburg“ in Grefrath betonte, dass der gedeckelte Pflegebetrag von maximal 278 Euro keine bedarfsgerechte Versorgung ermöglicht. Dadurch entsteht eine strukturelle Benachteiligung gegenüber Menschen ohne Behinderung, die bei einem vergleichbaren Pflegebedarf vollumfängliche Leistungen erhalten. Die Folge sind gesundheitliche Risiken, Überlastung des Personals und erhebliche Versorgungslücken.

Systemwandel erforderlich
Der Workshop formulierte daher klare Forderungen für einen inklusiven Systemwandel:

Anpassung der Finanzierungsstrukturen: Deutlich höhere, bedarfsgerechte Pflegebudgets und flexible Kombinationsmodelle aus Pflege und Assistenz.
Mehr spezialisierte Pflegeangebote: Aufbau inklusiver Einrichtungen sowie Kurzzeitpflegeplätze für Menschen mit Behinderung.
Bessere Verzahnung von SGB IX und SGB XI: Weg vom Zuständigkeitsstreit hin zu Lösungen, die sich am tatsächlichen Bedarf orientieren.
Verlässliche Beziehungen sichern: Überleitungen müssen Bindungen und gewohnte Strukturen berücksichtigen, um Krisen und Traumatisierungen zu vermeiden.
Qualifizierung der Teams: Mehr Fachwissen zu Demenz bei Menschen mit Behinderung, nonverbaler Kommunikation, Trauma und komplexen Beeinträchtigungen.
Stärkung von Selbstbestimmung und Teilhabe: Menschen mit Behinderung sollen im Alter dort leben können, wo sie sich zuhause fühlen – unabhängig vom Kostenträger.
Sozialplanung neu aufstellen: Kommunale Teilhabeplanung muss Alter und Behinderung gemeinsam berücksichtigen

Pflege muss inklusiv gedacht werden
Für die Arbeitgeber aus der Pflege ist die Botschaft an die Entscheider in der Politik, den Kommunen und Kostenträgern klar: Ein zukunftsfähiges Pflegesystem muss inklusiv gedacht werden. Nur wenn Pflege und Eingliederungshilfe gemeinsam handeln und Menschen mit Behinderung nicht länger durch starre Strukturen benachteiligt werden, lässt sich ein selbstbestimmtes und würdevolles Altwerden für alle gewährleisten.

Foto: Marcus Aurelius; www.pexels.com