
Veröffentlicht am 21. März 2025 von RKP
Pflegearbeitgeber warnen: „Es kommt zu einer Rationierung der Angebote!“
Dunkelflauten-Fachtag mit Mutmachbeispielen
Gelsenkirchen, 21. März 2025: Auf dem ersten gemeinsamen digitalen Fachtag am 19. März 2025 zur „Dunkelflaute“ in der Pflege diskutierten Betroffenenvertreter von „wir pflegen“ und Arbeitgeber der Ruhrgebietskonferenz-Pflege über die aktuellen und absehbaren Herausforderungen des deutschen Pflegesystems. Die Erlebnisberichte aus der Gegenwart waren ernüchternd, die Zukunftsaussichten düster – dennoch ist Resignation für die Pflegearbeitgeber aus dem Ruhrgebiet keine Option. Schließlich gibt es „Mutmachbeispiele“ und „Innovationspartisanen“, die sich vom pflegepolitischen Stillstand nicht ausbremsen lassen wollen. Doch der Reihe nach …
Für Bodo de Vries, stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsführung der Johanneswerk gGmbH, ist Deutschland „zu duselig, um mit der ‚Gesellschaft des langen Lebens‘ umzugehen“. Obwohl die demografische Entwicklung lange bekannt ist, stehen wir fast unvorbereitet vor den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. Er beschreibt die Lage ungeschönt: „Es kommt schon heute zu einer Rationierung der Angebote. Wir sind nicht auf die Vielzahl und Vielfalt der an uns gestellten Erwartungen vorbereitet. Wir haben aktuell keine tragfähige Strategie, mit der wir unsere Belegung steuern. Jede Einrichtung hat ihre Liste mit Anfragen aber keiner weiß, wie die Aufnahmen richtig priorisiert werden sollen.“
Das Angebot hält nicht Schritt
Notburga Ott, Vorständin von „wir pflegen“, ergänzt: „Rationierung bedeutet nicht, dass Ressourcen dort eingesetzt werden, wo sie am dringendsten benötigt werden. Versuchen Sie einmal mit Pflegegrad 5 eine ambulante Versorgung zu bekommen!“ Sie verweist auf Zahlen, die belegen, dass immer mehr Menschen ohne professionelle Pflegeversorgung auskommen müssen. Während vor 20 Jahren noch über 50 % der Pflegebedürftigen Unterstützung durch einen ambulanten Dienst oder eine stationäre Einrichtung erhielten, sind es heute nur noch 33 %. „Es wird immer davon gesprochen, dass die Leistungen für die Pflegebedürftigen stetig verbessert worden sind. Das stimmt aber nicht. Es sind lediglich die Leistungsansprüche gewachsen. Das Angebot hält damit aber nicht Schritt“ zieht Notburga Ott Bilanz.
Tägliche Gratwanderung
Diese volkswirtschaftliche Betrachtung wird durch die persönlichen Schilderungen der Betroffenen noch verstärkt. Melanie Bialowons, Koordinatorin der digitalen Selbsthilfegruppen von „wir pflegen“, beschreibt ihren Alltag als pflegende Mutter als tägliche Gratwanderung zwischen Unsicherheit und Überlastung: „Meine Berufstätigkeit hängt immer von anderen Menschen ab, und meine eigene Belastung kommt immer zuletzt.“
Zeit für eine gesellschaftliche Debatte
Für Notburga Ott ist es höchste Zeit für eine gesellschaftliche Diskussion über den Umgang mit dem Altern und dem steigenden Pflegebedarf: „Es gibt viele Lösungsansätze. Doch wir dürfen uns nicht im Klein-Klein verlieren, sondern müssen mutig eine große, zukunftsfähige Lösung anstreben.“ Dazu gehöre eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft, professionellen Pflegekräften und Betroffenen sowie der Ausbau wohnortnaher Versorgungsstrukturen. Besonders Kommunen sieht sie hier in der Pflicht.
Innovative Lösungen als Hoffnungsträger
Trotz der düsteren Lage gibt es Mutmachbeispiele, wo verschiedene Akteure – in Fachkreisen auch „Innovationspartisanen“ genannt – kooperieren, um die Herausforderungen zu bewältigen. So wurde in Münster der „Marktplatz ambulante Pflege“ entwickelt – eine digitale Plattform, die es Betroffenen ermöglicht, mit einem Klick 37 Pflegedienste in der Stadt zu erreichen. Darauf ist Karin Stritzke, Pflegeplanerin der Stadt, zu Recht mächtig stolz: „Wir haben fast 100 % der Pflegedienste aus Münster auf dem Marktplatz.“ Stephanie Duesmann, Leiterin der ambulanten Dienste der Diakonie, betont: „Unsere Mitarbeitenden sind erleichtert, weil sie Menschen nun auch dann eine Perspektive bieten können, wenn bei uns gerade keine Kapazitäten frei sind.“ Der Marktplatz ist Ergebnis einer Gemeinschaftsinitiative der Stadt Münster mit dem Arbeitgeberbündnis „Starke Pflege in Münster“.
Vereinbarkeit von Beruf und Pflege
Auch in der Emscher-Lippe-Region gibt es Fortschritte: Die Arbeitgeber der Ruhrgebietskonferenz-Pflege haben sich mit regionalen Partnern zusammengetan und das Konzept „Care for Work“ entwickelt. Ziel ist es, pflegend Beschäftigte durch schnelle Vermittlung von Unterstützungsangeboten zu entlasten und ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu erleichtern. Kerstin Schönlau, Geschäftsbereichsleiterin der Seniorenhilfe im Diakoniewerk Gladbeck, Bottrop, Dorsten fasst die Idee so zusammen: „Gemeinsam mit den Koordinierungsinstanzen der Region wollen wir den Schulterschluss mit den Arbeitgebern konkret machen. Pflege ermöglicht gemeinsam mit den Arbeitgebern die Gewinnung und Weiterbeschäftigung von Arbeits- und Fachkräften vor Ort. Wir stehen bereit, um unseren Beitrag zu leisten.“
Blick über die Grenzen: Buurtzorg als Vorbild
Zum Abschluss des Fachtags wurde der Blick auf internationale Modelle geworfen. Gunnar Sander, Geschäftsführer von Buurtzorg Deutschland, setzt sich seit Jahren dafür ein, das erfolgreiche niederländische Konzept nach Deutschland zu bringen. Im Mittelpunkt stehen wohnortnahe Netzwerke, die Angehörige und Nachbarschaften stärker in die Pflege einbinden. Obwohl das Projekt in Deutschland auf viele Hürden gestoßen ist, hält Sander es weiterhin für einen vielversprechenden Lösungsansatz.
Fazit: Pflege kann nur durch Kooperation gelingen
Die Quintessenz des Fachtags war für alle Beteiligten klar: Ohne Kooperation wird es nicht gehen. Niemand kann die großen Herausforderungen der „Gesellschaft des langen Lebens“ allein bewältigen. Die Ruhrgebietskonferenz-Pflege und „wir pflegen“ setzen sich gemeinsam für eine bessere Zukunft der Pflege ein.
Die Zukunft der Pflege geht uns alle an. Wir bleiben dran.
Glückauf!
Die Beiträge des Fachtags können Sie hier einsehen und/oder herunterladen:
- Pflegende Angehörige im Blackout – Erfahrungen und Einschätzungen von Edeltraud Hütte-Schmitz und Notburga Ott aus dem Vorstand von „wir pflegen“
- Digitale Lösungen für analoge Herausforderungen – Der „Marktplatz ambulante Pflege“ in Münster. Karin Stritzke von der Fachstelle Sozialplanung der Stadt Münster und Stefanie Duesmann, Leiterin der Diakonie mobil in Münster.
- Care for Work – Netzwerklösungen für pflegend Beschäftigte? Kerstin Schönlau, Geschäftsbereichsleitung Seniorenhilfe-Diakonisches Werk Gladbeck-Bottrop-Dorsten
- Vom Ausland lernen, heißt…. Ein Impuls zur Übertragbarkeit des Buurtzorg-Ansatzes auf das deutsche Pflegesystem. Ein Beitrag von Gunnar Sander, Geschäftsführer bei Buurtzorg Deutschland